Wir lernen aus dem Leben heraus

Elisabeth Kuhnle

Ich habe zwei Kinder, S. (10 Jahre) und Charlotte (7 Jahre), die nicht zur Schule gehen. Wir leben in Baden-Württemberg.
 
S. ging drei Jahre in eine städtische Kindertagesstätte, wo es ihm gut gefiel. Auch ich mochte diese Einrichtung sehr, sie wurde damals von einer ganz tollen Leiterin geführt. Dort waren auch die Eltern willkommen, die Interesse an Aktivitäten und Kontakten hatten. Beispielsweise hat eine Mutter innerhalb des Kindergartens eine Zeit lang einen Speckstein-Bearbeitungskurs angeboten, an dem sowohl Kinder als auch Eltern teilnehmen konnten. Insgesamt war dort eine sehr angenehme Atmosphäre.
 
Anschließend besuchte S. ein Jahr lang eine "Freie Aktive Schule" (nach dem pädagogischen Konzept von R. und M. Wild). Er genoss dort ein Jahr lang "Unschooling innerhalb einer Schule" (es gab keinerlei Kurse, Auflagen etc.). Er ging dort gerne hin, die Kinder spielten den ganzen Vormittag frei und waren viel draußen. Aber leider konnte ich mich nicht damit anfreunden, dass den Eltern sehr viel vorgeschrieben wurde, daher habe ich den Schulvertrag nach einem Jahr gekündigt.
 
Durch einen Freund lernte ich genau zum richtigen Zeitpunkt Bertrand Stern, Christiane Ludwig-Wolf und die "Initiative für selbstbestimmtes Lernen" kennen. Ich hatte keinen blassen Schimmer davon gehabt, dass es Kinder gab, die niemals zur Schule gingen, und das sogar noch hier in Deutschland, aber ich wusste sofort: genau das ist es, was ich gesucht habe! Schule passte schon deswegen nicht zu uns, weil sie am Morgen einfach viel zu früh anfängt (im Kindergarten war es völlig okay, wenn mein Sohn erst um zehn oder halb elf Uhr einlief ...).
 
S. blieb dann ein halbes Jahr zu Hause, doch als die Ankündigungen zunahmen, dass wir Schwierigkeiten bekommen würden, ging er für die zweite Hälfte der zweiten Klasse auf unsere zuständige Grundschule. Die Bedingungen waren super: nur 16 Kinder in der Klasse, eine kleine Grundschule ohne Hauptschule, nur eine Klasse pro Jahrgang, eine nette Klassenlehrerin, nette Kinder aus intakten Familien. Trotzdem passte diese Schule nicht zu uns: fast ausschließlich Frontal- und Verbalunterricht, absoluter Pünktlichkeitszwang, Misstrauen gegenüber der "abwegigen Idee", dass Kinder keine Unterweisung brauchen, sondern von sich aus lernen, zu viel so genannte "Normalität", Angepasstheit. S. entwickelte heftige psychosomatische Reaktionen. Am Ende des Schuljahres war klar: dieser Schuljahresschluss ist ein Abschluss mit der Schule! Und plötzlich waren alle psychosomatischen Beschwerden bei meinem Sohn verschwunden.
 
Seitdem genießen wir die Freiheit, unseren Tag nach unseren Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Nach zwei Jahren Schulabstinenz und echtem "Unschooling" (keinerlei häuslicher Unterricht) hat S. auf Wunsch des staatlichen Schulamtes (und mit seiner ausdrücklichen Einwilligung) einen etwa zweistündigen individuellen (mündlichen) Test (HAWIK-R) gemacht, der so supergut ausfiel, dass er das Angebot erhielt, ohne Aufnahmeprüfung ein Gymnasium besuchen zu können; allerdings haben wir uns entschlossen, weiterhin unsere Freiheit zu genießen. Wir machen immer noch keinen häuslichen Unterricht, S. besucht aber (auf seinen Wunsch hin) seit diesem Schuljahr zweimal wöchentlich das Badische Konservatorium, wo er Harfe- und Oboe-Unterricht erhält. Und er hat genug Interessen, Hobbys, Freunde - das Wort Langeweile ist uns ziemlich unbekannt.
 
Wir hatten ein Verfahren vor dem Amtsgericht und haben vor kurzem einen ablehnenden Beschluss vom Oberlandesgericht erhalten, so dass das seinerzeit verhängte Bußgeld (150 €) nun fällig werden wird. Aber wenn man bedenkt, dass die "Freie Aktive Schule" pro Monat 150 € Schulgeld gekostet hat, ist dies zu verschmerzen. (Ich plane allerdings - trotz geringer Aussichten - noch eine Verfassungsbeschwerde einzureichen.) Mit dem Schulamt möchte ich weiterhin in Kontakt bleiben, allerdings so, dass auch meine Vorstellungen gehört und gewürdigt werden.
 
Charlotte ging noch nie zur Schule und so soll es (zumindest vorerst) auch bleiben. Sie hat eine schwere Epilepsie und müsste daher in eine Sonderschule gehen. Sie hat etwa eineinhalb Jahre lang einen Kindergarten für Körperbehinderte besucht, verlor dann aber den Platz, weil sie nicht regelmäßig und oft genug kam. Dieser Kindergarten untersteht ebenfalls der Schulbehörde, und die Erfahrungen, die ich dort machte, entsprachen auch nicht im Entferntesten denjenigen aus Samuels Kindergartenzeit; es war so eine typische Einrichtung, bei der Eltern nur dann gern gesehen sind, wenn sie unkritisch bleiben und brav ihre Kuchen oder Salate zu den kleinen "Feiern" mitbringen. Und ihre Kinder doch bitteschön endlich mal los lassen ...!
 
Dieses Jahr wurde Charlotte schulpflichtig. Ich bin zu unserer zuständigen (bekannten) Grundschule hingegangen und habe gesagt, dass ich sie weder anmelden werde noch zurückstellen lassen möchte; sie wüssten ja sowieso, wie meine Einstellung zu Schule ist. Seitdem habe ich nichts mehr in dieser Sache gehört.
 
Ich werde allerdings nach dem negativen Ausgang unseres juristischen Verfahrens von mir aus nochmals Kontakt mit den Schulämtern (Staatliches Schulamt und Oberschulamt) aufnehmen und sie auffordern, meine Argumentationen zur Kenntnis zu nehmen und sich - falls sie es wünschen - davon zu überzeugen und wahrzunehmen (z. B. durch Gespräche oder ähnliche Tests, wie S. nun schon einen gemacht hat), dass und wie sich meine Kinder bilden. Denn solange meine Kinder offiziell schulpflichtig bleiben und nicht von dieser Schulpflicht befreit werden (solange wir also in einem Zustand ständiger Ungewissheit leben müssen), sollen ruhig auch die zuständigen Behörden ihrer Verantwortung nachkommen und sich informieren, ob das Bildungsrecht meiner Kinder außerhalb der Schule erfüllt wird oder nicht (und sie werden ein positives Bild gewinnen, das sie nicht werden leugnen können!).
 
Wenn ich es mir genau überlege, bedeutet "Unschooling" für mich, dass ich weder dem Unterrichten (ein Kind mit Informationen füttern, ihm Fertigkeiten beibringen) noch dem Thema Lernen insgesamt eine besondere Wichtigkeit zumesse. Wichtig ist für mich: Wie kriegen wir unser tägliches Leben gut auf die Reihe (allgemeinen Bedürfnissen wie Ernährung, Hygiene, Haushalt nachkommen); wo bleiben unverplante Zeiten zum Rausgehen, für Ausflüge, Treffen mit Freunden; Zeit für die Haustiere, den Garten; Zeit zum Spielen; Zeit für Bücher; Muße-Zeit? Fühlen wir uns wohl, so wie wir leben und da, wo wir zu Hause sind?
 
Ich halte sachliche/fachliche Inhalte von Bildungs-/Unterrichtsplänen für unnötig, denn die wichtigste Grundlage für die Bildung eines Menschen (eines Kindes) ist nicht sein intellektuelles Wissen, sondern die Festigung seines Wesens. Je nach seinem Wesen, seinem Charakter, wird das Kind dann Interessen zeigen und Beschäftigungen wählen, die auch der Bildung und Entwicklung seines Intellekts dienen. Die grundlegende Voraussetzung, dass "Unschooling = völliges Abschiednehmen von allem schulischen, verschulten Denken" funktioniert, ist das Vertrauen. Vertrauen in das Kind, in sich selbst und darin, dass das Kind, ich selbst, wir alle vom Leben getragen werden, bekommen, was wir brauchen (manche würden sagen, dass Gott/eine höhere Macht uns führt, seine schützende Hand über uns hält).
 
Wenn wir nicht mit fixen Vorstellungen über die Notwendigkeit der Unterrichtung zur Vermittlung der Kulturtechniken belegt wären, würden wir beobachten können, wie ein "normales" Kind (ein Kind ohne Handicap) genauso mühelos Lesen, Schreiben und Rechnen (für den Alltagsgebrauch) lernt, wie es seinerzeit Laufen und Sprechen gelernt hat. In unserer Gesellschaft, wo diese Kulturtechniken grundlegend wichtig sind, um selbständig leben zu können, wo also ein Kind ständig von Menschen umgeben ist, welche die Kulturtechniken anwenden, und auf Situationen trifft, die durch das Beherrschen der Kulturtechniken zu meistern sind, würde das Kind diese nebenbei und relativ mühelos erlernen. (Wie von Olivier Keller in seinem Buch "Denn mein Leben ist Lernen" dargestellt.)
 
"Lernen" gibt es bei uns zu Hause selten als isoliertes Lernen, das heißt Lernen, das nicht an Vorkommnisse und Tätigkeiten des allgemeinen Tagesablaufes gebunden ist, es findet dagegen meist als unvermeidliche Begleiterscheinung der Tätigkeiten des täglichen Lebens statt.
 
Viele "Unschooler" argumentieren gegen eine Unterrichtung mit dem Satz: "Lernen findet sowieso immer, bei jeder Beschäftigung statt." Für mich wurde aber auch wichtig zu akzeptieren, dass es Zustände des Lebens gibt, in denen kein Lernen (mehr) stattfindet (zumindest kein in irgendeiner Weise unmittelbar nachvollziehbares Lernen). Diese bezeichne ich bislang als "Zustände des Stillstandes - Dasein an sich". Solche Zustände kenne ich von meiner Tochter, wenn sie sehr viele epileptische Anfälle hat. Ich denke, wenn jemand zwischen Leben und Tod schwebt (im Koma liegt), ist vielleicht auch so ein Zustand. (Natürlich weiß niemand außer der betroffenen Person selbst, ob nicht in solchen Fällen ein "spirituelles Lernen" stattfindet.) Lernen ist ja eigentlich (positiv gesehen) eine Veränderung hin zu einem "mehr" im Sinne einer Erweiterung für die betroffene Person.
 
Unser Tages- und Wochenablauf:
 
Für mich ist sehr wichtig, dass am Morgen keine Hektik entsteht. Das hat viel damit zu tun, dass Charlotte nachts oft aufwacht und/oder Krämpfe hat, so dass ich morgens wirklich ruhebedürftig bin. Außerdem ist S. ein ausgesprochener Langschläfer, nicht nur, dass er oft spät ins Bett geht und spät aufsteht, er braucht auch wirklich viel Schlaf (deutlich mehr als seine Schwester). So schaue ich, dass wir niemals vor zehn Uhr vormittags Termine haben.
 
Durch die verschiedenen Termine sind unsere Tage und Wochen trotz "Unschooling" fest gegliedert. Vormittags finden Charlottes Termine statt (zurzeit: zweimal Ergotherapie, zweimal Krankengymnastik), nachmittags sind S.s Termine: zurzeit sind dies - von Montag bis Samstag - Oboe-Unterricht, Comic-Zeichenkurs, Harfen-Unterricht, Bastelkurs im Kinder- und Jugendhaus, Kinderkino (es werden wirklich gute Filme gezeigt), freies Programm (Basteln, Spielen, Kochen und Essen) im Kinder- und Jugendhaus. (Das Kinder- und Jugendhaus in unserem Stadtteil ist eine quasi-städtische Einrichtung, die sehr billige und sogar überwiegend kostenlose Angebote bzw. einfach einen Treffpunkt für verschiedene Altersgruppen bietet; es sind immer einige Sozialarbeiter/innen und Erzieherinnen vor Ort, als Ansprechpartner, Aufsichtspersonen und Koordinatoren.) In relativ regelmäßigen größeren Abständen kommt für S. dann noch Kindertheater (selbst Theater spielen) dazu, und für uns alle Fahrten nach Strasbourg zu einer französischen "Unschooling-Familie". Ich halte aber diese ganzen Termine bzw. die feste Gliederung der Tage und Wochen durch die Termine nicht für unbedingt wichtig; würden wir irgendwo auf dem Land wohnen, wo es weniger solche Angebote gibt, würden wir dafür vielleicht jeden Tag regelmäßig im Garten arbeiten, einmal wöchentlich eine Wanderung machen, und S. würde versuchen, Instrumentenspiel autodidaktisch zu erlernen.
 
Etwa einmal die Woche kommt abends ein Freund vorbei und wir machen Gesellschaftsspiele; ein- bis zweimal pro Woche geht Charlotte zu einer Babysitterin. S. geht zu seinen Terminen selbständig, manchmal ist er davor oder danach noch unterwegs, meist in Bibliotheken, manchmal zu Freunden (auch zu Erwachsenen, z.B. geht er manchmal alleine zu einer der Babysitterinnen von Charlotte, um bei ihr zu basteln, Briefmarken zu sammeln, Rommé zu spielen oder fernzusehen).
 
Lernen als Begleiterscheinung:
 
Beim Spielen und auch den anderen Beschäftigungen wird sowieso unvermeidlich gelernt: z.B. wenn S. Mühle oder Rommé spielt, schult er sein taktisches und logisches Denken, bei manchen Kartenspielen das Kopfrechnen; wenn er für sich alleine mit seinen Legos, Kuscheltieren, selbst gebastelten Sachen spielt, schult er räumliches Vorstellungsvermögen, Phantasie, Konfliktlösungsstrategien (Rollenspiele); bei Spielen wie Malefiz oder Fang-den-Hut werden Kommunikationsvermögen und das Verlieren-Können geübt. Wenn Charlotte mit mir oder S. spielt, z.B. Puzzle oder mit Karten, sehe ich, dass sie vor allem ihre Sprache schult (durch die Kommunikation mit dem Spielpartner), aber auch allgemeines Verständnis und Kombinationsvermögen (sie ist auf dem Entwicklungsstand eines etwa dreijährigen Kindes). Spiele draußen schulen natürlich oft überwiegend die Motorik, wenn sie sportlichen Charakter haben. Und wenn wir Fahrrad fahren, werden angemessenes Verhalten im Verkehr, Konzentrations- und Reaktionsvermögen automatisch geschult.
 
S. liest sehr, sehr viel (meist Abenteuerromane, Krimis und Science Fiction, auch Comics, Sachbücher, wenn er sich mit einem bestimmten Thema beschäftigt - z.B. Tiere, antike Mythen); sehr oft setzt er Gelesenes grafisch um, in Phantasiezeichnungen zu den Romanen, Zeichenübungen anhand der Comic-Figuren, realistische Zeichnungen nach Tier- oder Pflanzenabbildungen; gelegentlich entwickelt er daraus zusammenhängende Geschichten (geschrieben und bebildert) oder eigene Comics; sehr häufig bleiben diese komplexeren Werke aber fragmentarisch (aber ich sehe, dass er mit zunehmendem Alter/zunehmender Reife seine Projekte - auch wenn sie komplexer sind - eher konsequent verfolgt und doch ab und zu mal beendet). Er zeichnet auch am Computer, die Handhabung des entsprechenden Programms dafür hat er sich - vor mittlerweile etwa zwei Jahren - völlig selbständig angeeignet (learning by doing). Ich wusste gar nicht, dass ich solche Zeichenprogramme auf meinem Computer habe. Manchmal schreibt er auch am Computer - das hat den Vorteil, dass ihn das Rechtschreibeprogramm auf Fehler aufmerksam macht.
 
S. wünscht sich auch, Sprachen zu lernen: Englisch und Französisch; da wir einen guten Kontakt mit einer Home-(Un-)schooling-Familie aus Strasbourg haben, denke ich, dass er allmählich im Austausch mit deren Kindern Französisch lernen wird: bis jetzt sind es nur wenige Ausdrücke und Worte, es macht mir aber grundsätzlich keine Sorgen, wenn etwas langsam vorangeht (ich mag den Satz: "Gut Ding will Weile haben."); für Englisch haben wir noch keine Lösung, vielleicht bestelle ich mal einen Kurs von der Deutschen Fernschule (das wäre dann kein echtes Unschooling mehr, aber ich sehe das nicht so eng, das Unschooling ist für mich ja kein Programm oder Dogma, sondern einfach besonders lebenspraktisch).
 
Allgemein beobachte ich, dass es so viele Alltagssituationen gibt, wo die Kinder Beobachtungen machen, die ihnen echte Lernfortschritte bringen: z. B. hat sich unsere kleine Katze mal unter die Motorhaube unseres Autos verirrt - das war Anlass für S., sich einige Teile des Motors etwas genauer zu betrachten. Ich habe den Motor dann auch angelassen, und S. hat beobachtet, wo sich etwas bewegt oder dreht; meist lerne ich in solchen Situationen selbst etwas Neues, z.B. auch, wenn wir zusammen nach der Bedeutung eines Fremdwortes oder nach genaueren Informationen zu einem Sachthema im Lexikon nachschlagen. Manchmal gehen wir auch in Ausstellungen oder Museen, entweder alle zusammen, oder S. für sich alleine oder mit Freunden zusammen. Durch den Umgang mit den Haustieren und den Pflanzen in Haus und Garten und durch allgemeine Naturbeobachtungen im Garten oder bei Ausflügen wird auch sehr vieles durch Beobachtung und Erfahrung gelernt.
 
S. erschließt sich seine Umwelt sozusagen in immer größeren Kreisen: mittlerweile fährt er schon sehr viel und auch weitere Strecken alleine mit öffentlichen Verkehrsmitteln herum, so lernt er auch die Stadt immer genauer kennen, er geht in Bibliotheken, um Bücher auszuleihen und im Internet zu surfen und gelegentlich zu Veranstaltungen. Gelegentlich geht er auch alleine Dinge für den täglichen Bedarf, wie z.B. Lebensmittel, einkaufen, wo sich eine der Gelegenheiten bietet, Rechenkenntnisse einzusetzen. Er macht vieles alleine, weil die Schulkinder kaum Zeit haben; wenn sie nicht in der Schule oder im Hort sind, machen sie Hausaufgaben; aber wenn mal ein Kind Zeit hat, hat S. keine Probleme und freut sich sogar sehr, mit anderen zusammen zu spielen, Fahrrad zu fahren, spazieren zu gehen; er unternimmt auch öfter was zusammen mit befreundeten Erwachsenen (ohne mich), die mehr Zeit haben als die Schulkinder (das sind vor allem zwei ältere Menschen, die nicht mehr arbeiten - dadurch kommt er auch mit Menschen aller Generationen zusammen).
 
Seine beiden Musikinstrumente lernt S. nun richtig "klassisch", im Konservatorium in Einzel- (Oboe) bzw. Gruppen-Unterricht (Harfe). Zur Oboe kam er per Zufall, es gab ein superbilliges Schnupperkursangebot, und das gefiel ihm (aber vor allem der Lehrer gefällt ihm); Harfe hat er sich schon sehr lange gewünscht, wir haben es immer wieder verschoben, denn es ist teuer (die Instrumentenmiete), doch ich merke, dass sein Wunsch, Harfe zu spielen, ihm wirklich wichtig ist, er übt sehr oft von alleine; und obwohl er die Lehrerin nicht besonders gerne mag, hat er zu mir gesagt: "Ich mache auf jeden Fall weiter, ich lasse mir doch nicht von der das Harfespielen vermiesen." Das finde ich schon souverän für einen Zehnjährigen; hier zeigt sich meines Erachtens seine wirklich eigene, innere Motivation, dieses Instrument spielen zu lernen.
 
Ich habe den Eindruck, dass ab einem bestimmten Alter, einer bestimmten Reife eines Kindes, und wenn ein ganz fester und konkreter Wunsch besteht, eine Fertigkeit zu erlernen, das Lernen durch Unterrichtung nützlich und hilfreich sein kann (nicht jede/r ist zum Autodidakten geboren; auch muss das Rad nicht unbedingt von jedem wieder neu erfunden werden). Um die Basis für diese Reife zu schaffen, erscheint mir Unterrichtung dagegen eher störend (wenn nicht zerstörend).
 
Mein Fazit:
"Unschooling" ist zu befürworten, weil es absolut lebenspraktisch ist.
"Unschooling" ist zu bevorzugen, weil zu frühe (nicht eingeforderte) Unterrichtung möglicherweise (zer)störend wirkt.
 
Ich hoffe, dass mein ausführlicher Bericht diejenigen, die das Gefühl haben, dass das Leben ohne Schule der richtige Weg ist, dazu ermutigen kann, dieses Gefühl stark werden zu lassen und die eigenen Wünsche und Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Glückliche und selbstbewusste Kinder sind der beste Trumpf in der Auseinandersetzung mit Behörden, die noch nicht verstanden haben, was Kinder wirklich brauchen.
 
 
© Elisabeth Kuhnle, 2004