Wer ist der Lehrer?
von Jan Fortune-Wood

Ich erhielt vor kurzem eine Karte von einem über achtzigjährigen Freund, der in der Oberstufe einmal mein Lehrer gewesen war, und ich erinnerte mich an seine letzte Bemerkung, die er in mein Zeugnis geschrieben hatte. Er fragte großzügig: „Wer ist der Lehrer?“ Trotz seiner Zugehörigkeit zur Institution Schule war er aufgeschlossen genug, um an der Seite seiner Schüler zu lernen und zu erkennen, dass man eine ganze Menge erreicht, wenn man gemeinsam nach Wissen strebt. Besonders im letzten Jahr war dies eines der wichtigsten Dinge, die ich durch das gemeinsame Lernen mit meinen eigenen Kindern gelernt habe. Das selbstbestimmte Lernen führt uns auf alle möglichen unerwarteten Lernpfade und weit davon entfernt, uns in einer traditionellen Schüler-Lehrer-Beziehung mit unseren Kindern wieder zu finden, entdecken wir vielmehr, dass das ganze Leben dem Lernen dient und wir immer mehr lernen als wir geben können.

Als selbstbestimmt lernende Familie haben wir jahrelange Erfahrung mit dieser Art des Lernens – die gesamte Familie erwirbt neues Wissen gemeinsam und die Samen dieses Wissens stammen oft von Orten, von denen ich es nie vermutet hätte, als ich noch keine Kinder hatte. Als wir mit dem Lernen ohne Schule begannen, hatte ich eine sehr schulorientierte Vorstellung von Bildung, da ich nicht nur ein Produkt des Systems, sondern darüber hinaus Lehrerin war. Meine Liste von „der Bildung dienlich“ und „nicht in den Bereich der Bildung gehörend“ war gut ausgeprägt, solide und schlichtweg falsch. Nach ein paar Jahren hatten mich meine Kinder gelehrt, dass Lernen nicht so funktioniert wie es traditionellerweise dargestellt wird und unser Leben änderte sich dementsprechend. Lange nachdem wir das nutzlosen Einteilen von Aktivitäten in die Schubladen “der Bildung dienlich” und “nicht in den Bereich der Bildung gehörend“ aufgegeben hatten, gab es noch immer Tage, an denen ich mich fragte, ob wir verrückt waren auf diese Weise gegen den Strom zu schwimmen, und an denen ich Zweifel hatte, wohin das alles führen würde. Die Auffassung von Bildung als ein System von Ergebnissen und Produkten ist letzten Endes kulturell bedingt und tief in unserer Denkweise verwurzelt; sie ändert sich nicht ohne weiteres.

Wenn wir durch das Leben lernen und wenn die Quellen, die unsere Gedanken speisen, die gesamte Spannbreite von Unterhaltungen über alles Mögliche bis hin zu stillen Spaziergängen umfassen; von Wintermonaten, in denen Videos geguckt und Computerspiele gespielt werden, zu Sommerunternehmungen wie Zelten, Kanu fahren und Klettern; von langen Tagen des gemeinsamen Vorlesen zur Himmelsbeobachtung, stellen wir immer wieder fest, dass es sehr schwierig ist zu messen, wie viel Wissen sich aufbaut. Es mag wenige oder keine schriftlichen Zeugnisse geben, abgesehen von einigen Kritzeleien auf der Rückseite eines Briefumschlags, keine Lehrpläne und keine bunten Tabellen mit Lernzielen, die ordentlich als “erreicht” abgehakt werden. Was haben wir also all die Jahre gemacht und was haben wir gelernt? 

Merkwürdigerweise stellt diese Frage niemand in den ersten drei oder vier Jahren des Lebens von Kindern, wenn sie ohne die Hilfe von Plänen und formalen Überwachungsprozeduren eine unglaubliche Bandbreite von Fertigkeiten und Wissen erwerben. Wenn die Kinder aber älter werden, scheint es, dass wir nicht anders können. Wir sind konditioniert das Schlimmste zu befürchten, wenn man Kinder nicht dazu bringt zu lernen – das bedeutet unweigerlich sie zu unterrichten, ob in der Schule oder zu Hause. Ebenso sind wir konditioniert ständig zu überprüfen, jedem Lernen zu misstrauen, das nicht in regelmäßigen Abständen gemessen wird. Fakt ist jedoch, dass es beim Lernen zum großen Teil nicht um leicht fassbares Wissen und abprüfbare Fakten geht. Das meiste Lernen findet im Inneren eines Menschen statt, und das meiste von dem, was wir „wissen“ und was uns im Leben nützlich ist, ist nicht an der Oberfläche zugänglich. Überdies wissen wir sehr wohl, dass wertvolle Dinge einem Reifungsprozess unterliegen. Wenn wir einen Sack Zwiebeln pflanzen, warten wir ab, bis sie keimen und austreiben und schließlich die Blume zum Vorschein kommt. Wir buddeln sie nicht ständig wieder aus, um nachzusehen, wie weit sie schon sind, und wenn wir das täten, erginge es ihnen mit Sicherheit sehr schlecht. Das Gleiche gilt für das Reich der Gedanken. Gedanken erwachsen in Menschen; sie sind hauptsächlich privater Natur, vielschichtig, und nur ein kleiner Teil eines Gedankens gelangt je in artikulierter Form an die Oberfläche, und auch dann nur zu seiner Zeit.

Trotz des langsamen Starts meiner Familie fiel irgendwann der Groschen und wir lernen seit mehreren Jahren produktiv in Mustern miteinander, die dem Außenstehenden willkürlich erscheinen mögen oder die vielleicht überhaupt nicht nach Lernen aussehen. Unser eigenes Selbstvertrauen allerdings wuchs ständig; unser Vertrauen in diesen autonomen Prozess, der ständiges Engagement erforderte, aber nicht das Brimborium der traditionellen Vorstellung von Bildung. Dieser integrierte Lern- und Lebensstil ist uns sogar derart ins Blut übergegangen, dass uns die jüngste Wendung überrascht hat.

Die Zwiebeln, die gepflanzt und gepflegt werden – bester Boden und beste Verhältnisse vorausgesetzt – kommen über kurz oder lang heraus und inszenieren ein erstaunliches Frühlingsspektakel aus Farben, Duft und Schönheit. Vielleicht erhalten wir nicht das Ergebnis, das wir erwartet hatten – die gemischte Tüte mag einige Überraschungen enthalten – und genauso ist es im wirklichen Leben. Der Großteil dessen, was sich autonom bildende Kinder lernen, bleibt in ihren eigenen Köpfen verborgen, es ist nicht abprüfbar, wird oft nicht einmal artikuliert, aber einiges davon wird plötzlich aufblühen und die hervorgebrachten Gedanken können mitunter recht unerwartet sein.  

Wie nur haben sich aus den Jahren des Vorlesens, des Durchführens einfacher Experimente, des Kuchenbackens, des Fernsehens und des Redens und Redens und abermals Redens (in einem Tempo, das uns unglaublich erscheint, wenn wir den inneren Reifeprozess nicht mitverfolgen konnten) eine Liebe zur Philosophie, die Fähigkeit Literatur zu analysieren und zu dekonstruieren, ein Durst nach und ein Verständnis für komplexe naturwissenschaftliche Methodologie und Prinzipien oder die Fähigkeit künstlerischer Kreativität mit entsprechender Kunstfertigkeit Ausdruck zu geben, entwickelt?

Die konventionelle Bildungstheorie sagt uns, dass wir solche Dinge nur erreichen können, indem wir sorgfältig formale Schritte befolgen oder bereits in jungen Jahren einen Stein auf den anderen bauen, aber unsere Erfahrung hat uns das Gegenteil bewiesen. Es ist keine Zauberei. Das Wissen von Kindern macht keinen plötzlichen Sprung von Null zu naturwissenschaftlichen Kursen auf Universitätsniveau, dennoch können sie ohne vorherige formale Studien naturwissenschaftliche Kurse an der Universität belegen, wenn sie es gewohnt sind durch das Leben zu lernen und wenn sie mit der Einstellung aufgewachsen sind, dass es für jedes Problem, dem sie begegnen, eine Lösung gibt – kurz gesagt, wenn sie überzeugt sind, dass sie alles tun können, Interesse und eine gewisse Leidenschaft vorausgesetzt.

Wir sollten demnach nicht überrascht sein, wenn Kinder, die die letzten acht oder zehn Jahre scheinbar herumgegammelt haben und sich ein bisschen hiermit, ein bisschen damit beschäftigt und viel gespielt haben, sich plötzlich in den Erwerb von Fertigkeiten und Wissen stürzen, die viele erwachsene Überlebende des formalen Bildungssystems erbleichen lassen würden. Genau das ist uns vor kurzem passiert. Obgleich es uns nicht hätte überraschen dürfen und all unsere Theorie uns sagte, dass dies geschehen würde, hat es uns die Sprache verschlagen als es wahrhaftig eintrat.

Unsere überaus gelassene Familie gleicht heutzutage einem emsigen Bienenstock. Was uns nach wie vor von einer konventionellen Lernumgebung unterscheidet, ist die Tatsache, dass alle Aktivitäten auf der Leidenschaft der jeweiligen Person basieren; es handelt sich nicht um akademische Plackerei auf Geheiß des Systems, sondern um Selbsterfüllung. In dieser neuen Emsigkeit musste sich die Art des elterlichen Beitrags natürlich den neuen Gegebenheiten anpassen. Zurzeit sind meine Tage einerseits damit gefüllt, Unterstützung zu leisten bei der Bewältigung von Studienprogrammen – voruniversitäre Kurse in Philosophie, Biologie und Literatur; Grundstudiumskurse in Naturwissenschaften und Kunst – und andererseits damit, die selbstbestimmte Lernumgebung aufrecht zu erhalten, in der Gespräche die Hauptrolle spielen.

In diesem Zusammenhang kehre ich zu meiner ursprünglichen Frage zurück: “Wer ist der Lehrer?“. Mein eigener akademischer Hintergrund ist die Theologie und, in geringerem Maße, die Pädagogik und die Literatur. Als Teil dessen habe ich auch Philosophie studiert, aber die allgemeinere Philosophie, auf die ich mich einlassen musste, um eine Hilfe zu sein, war eine wunderbare Lernerfahrung. Literatur war eine wahre Freude, nicht unähnlich meines eigenen Studiums des kreativen Schreibens und meiner Arbeit als Verlegerin von Gedichten, aber mich mit schwierigen naturwissenschaftlichen Themen auseinanderzusetzen, einschließlich der zugehörigen Mathematik, war schon eine Erfahrung. Ich kann wohl kaum von mir behaupten die Lehrerin zu sein; stattdessen stehe ich einfach dem Lernenden zur Seite und gemeinsam bauen wir anhand der wundervollen Materialien der Fernschule und der Fernuniversität das Wissen auf, das wir benötigen.

Es ist beruhigend zu erleben, dass all die Dinge, von denen ich immer behauptet habe, sie seien pädagogische Mythen, nichts als eben solche sind: man kann sich auf Hochschulniveau in die Physik stürzen ohne jegliches Vorwissen auf dem Gebiet und nicht nur zu Verständnis gelangen, sondern auch Faszination empfinden.

Kinder, die sich autonom bilden, können alles lernen, was sie möchten, angefangen beim Tischlern bis hin zur Physik, von der Malerei bis zur Geschichte. Mehr noch: sie können dies tun ohne jahrelange geistlose Lektionen über sich ergehen lassen zu müssen, die nur dazu dienen, sie glauben zu machen, dass Lernen ein schwieriges Unterfangen ist und in derart kleinen Schritten vor sich gehen muss, dass sie dessen müde werden bevor sie ihre Ziele erreicht haben. Dies ist das Geheimnis, welches traditionelle Pädagogen nach aller Möglichkeit nicht preisgeben mögen – dass man seine Kindheit mit Spielen, Reden, Backen, Wandern, Höhlenbauen und Fernsehen verbringen und dabei dennoch alles Wissen erwerben kann, das man benötigt, um sich in jedes akademische Fach oder jede praktische Tätigkeit einarbeiten zu können, für welche man sich als junger Erwachsener interessieren mag. Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn sich ein Großteil der Kinder und Eltern dessen bewusst würde!

Das andere Geheimnis ist ebenso bedeutsam – Sie können Ihrem Kind helfen alles zu lernen, selbst etwas, wovon Sie keine Ahnung haben, und sogar etwas, was Ihnen früher großen Respekt eingeflößt oder dessen bloßer Gedanke Sie in Angst und Schrecken versetzt hat. Sie können dies aus dem gleichen Grund, aus dem Ihre Kinder ohne all jene Jahre des Schulbesuchs lernen können. Bedingung ist nur, dass es Ihnen so leidenschaftlich am Herzen liegt, Ihren Kindern zu helfen, dass sich Ihr Geist weit genug öffnet, um an ihrer Seite alles erreichen zu können, oder zumindest weit genug, um herauszufinden, wo Sie die Unterstützung bekommen können, die sie beide eventuell benötigen.

Eine gedeihende Bildung hat nichts mit im Vorhinein festgelegten Resultaten zu tun, es geht vielmehr darum, dass jeder erreicht, was er für sich erreichen möchte. Jahre der formellen Vorbereitung, ständiges Testen und Überwachen und Unterricht durch jene, die sich selbst zu Hütern des Wissens erkoren haben, sind nicht der Schlüssel zur Bildung. Das Geheimnis liegt darin, zu tun, was immer man möchte, in dem Moment, in dem man den Wunsch spürt, es zu tun. Das Geheimnis besteht darin, Eltern zu haben, die vielleicht keine Experten sind, aber ebenso aufgeschlossen wie ihre leidenschaftlichen, kreativen, wissbegierigen Kinder. Das Geheimnis ist, dass das Leben selbst die Bühne für unser Lernen ist.


© Copyright Jan Fortune-Wood
 

Ursprünglich veröffentlicht in "Life Learning : the International Magazine of Self-Directed Learning", Juli/August 2004, ISSN 1499-7533, S. 26 - 28.

Aus dem Englischen übertragen von S. Mohsennia.  


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