Kinder annehmen
von Valerie Fitzenreiter

"Versuche nicht, dein Kind zu perfektionieren; bemühe dich statt dessen ständig, deine Beziehung zu ihm zu perfektionieren." (Dr. Henker)

Ein Kind ist solch ein Segen in unserem Leben, wenn wir ihm seine Freiheit lassen. Viel zu oft sehen wir ein Kind mit Eltern, die es nicht mögen und die täglich ihrer Verachtung ihm gegenüber Ausdruck verleihen. Die Ironie ist, dass die Eltern selbst die Ursache für das Verhalten des Kindes sind. Wenn einem Kind tagein tagaus kein Respekt entgegen gebracht wird, wird es sich mit Sicherheit zu einem Kind entwickeln, mit dem die Mehrheit von uns nicht gerne zusammen ist. Einem Kind zu sagen: "Du bist böse." ist die beste Art zu garantieren, dass das Kind boshaft wird, denn wenn wir etwas nur häufig genug hören, setzt es sich als unbestreitbar in unseren Köpfen fest, dass dies die Wahrheit sein muss. Wenn die Eltern einem sagen, dass man böse ist, dann muss man böse sein. Warum soll man sich dagegen wehren? Man richtet sich einfach nach der Meinung der Autorität und ist, was die Eltern über einen sagen.

Eine meiner Freundinnen hat zwei Kinder, und mir war von Anfang an klar, dass die Tochter bevorzugt behandelt wird. Sie versucht, ihren Sohn genauso zu lieben, und bemüht sich sehr zu beweisen, dass er in ihrem Herzen gleichwertig ist. In Zeiten des Zweifels und des Stresses jedoch offenbart sich die Wahrheit. Sie ist viel härter ihm gegenüber und drängt ihn, jemand zu sein, der er nicht ist. Als er jünger war, sagte sie ihm, er solle sich nicht so dumm benehmen und seine Hausaufgaben machen. Er interessierte sich für Sport und nicht im geringsten für die Schularbeit, also untersagte sie ihm, zum Sport zu gehen, wenn seine Noten auf ein nach ihrem Maßstab unakzeptables Niveau fielen. Die Tochter zeigte hervorragende Leistungen in der Schule und durfte daher an außerschulischen Aktivitäten teilnehmen, aber der Sohn wurde immer depressiver und musste zwei Schuljahre wiederholen. Als er siebzehn Jahre alt wurde, rannte er von zu Hause fort, um bei einem Vater zu leben, der niemals Zeit für ihn gehabt hatte als er jünger war. Er muss über vieles hinwegkommen, bevor er sich zu einem reifen Erwachsenen entwickeln kann. Wäre ihm erlaubt worden, seine Energie beim Sport einzusetzen, wie er es gerne getan hätte, hätte er vermutlich in der Schule bessere Leistungen erbracht, weil er allgemein ein glücklicherer Mensch gewesen wäre. Seine schlechten Noten wurden so zu seinem Selbstwertgefühl.

Wir können uns noch so sehr bemühen als Eltern, aber wenn wir unserem Kind nicht zuhören, verpassen wir seine Bedürfnisse. Es ist unsere Verantwortung als Eltern, dafür zu sorgen, dass die Bedürfnisse unseres Kindes erfüllt werden. Unterstützen wir es, wenn es jünger ist, wird unser Lohn ein erwachsenes Kind sein, das uns bedingungslos liebt. Das Kind hat nichts, vor dem es fliehen müsste, und es muss über keine seelischen Qualen hinwegkommen. Es wird in dieser Welt mit wesentlich weniger Problemen aufwachsen als die meisten Menschen. Es wird zuversichtlich und selbstsicher sein und braucht keine Zustimmung von außen, um seine Ziele im Leben zu erreichen.

Ich habe mich stets in Acht genommen, niemals zu sagen: "Ich mag dich, aber was du getan hast, gefällt mir nicht." Das, so glauben viele Experten, sollten wir sagen, aber es sendet eine widersprüchliche Botschaft. Wir sind, was wir tun. Wenn also etwas, was wir getan haben, missfällt, dann ist das Teil unserer Persönlichkeit. Wenn ein Kind einen Wutanfall bekommt, weil es frustriert ist und nicht versteht, warum es etwas nicht haben darf, dann wirkt Ihre Äußerung, dass Sie nicht mögen, was es getan hat, auf das Kind so als hätten Sie ihm gesagt, es hätte kein Recht, aufgebracht zu sein. Dies erweckt in ihm das Gefühl, dass Sie es nicht mögen oder seine Gefühle nicht respektieren. Sie mögen denken, dass Sie dem Kind beibringen, was richtig und was falsch ist, aber in Wirklichkeit untergraben Sie das Vertrauen des Kindes zu Ihnen. Kleine Kinder sind zu jung, um die moralische Argumentation zu verstehen und zu schätzen, warum ihre Taten gut oder schlecht sind. Zustimmung bedeutet Liebe; Missbilligung bedeutet Hass.
 

© Valerie Fitzenreiter, 2003
 

Auszug aus:

Fitzenreiter, Valerie: The unprocessed child, 2003
 

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia.

Weitere Informationen unter: www.ubpub.com/unprocessedchild.html.